Einleitung

Kompetenzorientierung als Grundsatz des schulischen Unterrichts ist im Moment in aller Munde und setzt man sich nicht vertieft mit der Thematik auseinander könnte man leichtfertig zum Schluss kommen, dass es sich dabei um eine neue «Modeerscheinung» im jahrzehntealten Wechselspiel der didaktischen und pädagogischen Unterrichtsgrundsätze handelt. Tatsächlich aber fasst dieser Begriff verschiedene Erkenntnisse zusammen, die sich in den letzten Jahrzehnten in den didaktischen, entwicklungspsychologischen und neurologischen Wissenschaften durchgesetzt haben. Schüler- oder Handlungsorientierung, Individualisierung oder selbstgesteuertes Lernen sind beispielsweise altbekannte Unterrichtsprinzipien. Dass diese Erkenntnisse nun zum Beispiel konsequent im Lehrplan 21 festgehalten sind und mit dieser «Verbindlichkeit» eine grössere Auseinandersetzung mit diesen Prinzipien eingefordert wird, ist deshalb nur die Konsequenz einer seit längerem in Gang befindlichen Entwicklung.

 

Wer sich nun als Konsequenz dieser neuen «Verbindlichkeit» mit der Literatur zu diesem Thema vertraut macht, erkennt rasch, dass sich die Vorstellungen darüber, was Kompetenzorientierung überhaupt bedeutet und wie sich dessen Grundsätze im konkreten Unterricht manifestieren sollen, stark unterscheiden. In didaktischen und pädagogischen Lehrbüchern und Zeitschriften sind in grosser Zahl längere theoretische Abhandlungen zu finden, was Kompetenzorientierung in seinen Grundsätzen bedeutet und welche Anpassungen des eigenen Unterrichts diese Grundsätze erfordern. Werden aber konkret «neue» Unterrichtsbeispiele als Anregung vorgestellt, wird man das Gefühl nicht los, dass hier häufig altbekannte, bewährte Unterrichtssequenzen leicht aufgearbeitet präsentiert werden in der Hoffnung, dass diese «Korrekturen» an bestehenden Unterrichtsmaterialien genügen, um die neue Verbindlichkeit einzulösen.

 

Als ich persönlich vor etwas mehr als 10 Jahren in den Lehrerberuf eingestiegen bin, war mir der Begriff der Kompetenzorientierung noch nie begegnet oder zumindest hat er sich in meiner Lehrerausbildung oder in meinen ersten Weiterbildungen nie in einer Art offenbart, dass es mir in Erinnerung geblieben wäre. Meine ersten Jahre als Lehrperson versuchte ich meinen Schülerinnen und Schülern spannenden und abwechslungsreichen Unterricht zu bieten. Wie ich das von der allermeisten von meinen engagierten Berufskollegen und –kolleginnen auch kenne, verwendete ich viel Zeit und Energie in das Konzipieren von neuen Unterrichtseinheiten und spannenden Aufgabenstellungen, versuchte möglichst viel Wissen so aufzubereiten, dass es den Schülerinnen und Schülern bestenfalls gelingt die Relevanz der Themen zu erfassen und auch komplexe Zusammenhänge zu verstehen. In den ersten Jahren gab mir diese Form von Unterricht auch eine grosse Befriedigung. Möglichst viel Wissen zu transportieren, die Klasse engagiert durch die Lektionen zu führen und am Feierabend «abgearbeitet» den Heimweg anzutreten gaben mir das Gefühl, meine Arbeit gut erledigt zu haben. Mit den Jahren aber mischte sich in das Gefühl der Befriedigung ein Gefühl der Unsicherheit. Immer öfter bekam ich den Eindruck, dass von meinen Inhalten bei den Schülerinnen und Schülern erschreckend wenig «haften» bleibt, dass ich mich als Lehrperson abmühe, während die SuS oft in einer passiven Arbeitshaltung bleiben. Dass sie gar nicht wirklich an den Unterrichtsthemen interessiert sind und dass die meisten sich vor allem wegen den Leistungsbeurteilungen mehr oder weniger am Unterricht engagieren. Ich begann althergebrachte Unterrichtsmethoden und eingeschliffene Schulpraktiken zu hinterfragen mit der wachsenden Überzeugung, dass diese wenig zielführend sind und begann mit offeneren Unterrichtsformen zu experimentieren.

 

In dieser Phase machte ich nun auch Bekanntschaft mit dem Schlagwort der Kompetenzorientierung und ich gewann die Überzeugung, dass dieser Grundsatz ganz viele meiner Ideen und Überzeugungen abdeckt. In mir wuchs der Wunsch mich vertieft mit diesem Konzept auseinanderzusetzen und meinen Unterricht einmal von Grund auf zu hinterfragen und neu aufzubauen und zu orientieren. Damit verbunden war auch das oben geschilderte unbefriedigende Gefühl bei der Lektüre der ersten Fachliteratur. Kompetenzorientierung konsequent umsetzen muss mehr sein, als ein paar Unterrichtsmethoden neu in das Curriculum aufzunehmen oder Unterrichtseinheiten aufzufrischen. Für die Kompetenzorientierung, wie sich sie verstehe, muss Unterricht neu gedacht werden und im besten Fall auch jahrzehntealte und starre Strukturen über Bord geworfen werden.

 

Nicht zuletzt durch das Aufwachsen meiner eigenen Kinder hat sich meine Vorstellung von «Lernen» und «Wissen» grundlegend verändert. Wenn man sieht wie sich kleine Kinder in spielerischer Form und aus eigener Motivation die grundlegenden Verhaltensweisen für ein erfolgreiches Leben Schritt für Schritt aneignen, dann wirkt die Arbeit, die wir Lehrpersonen tagtäglich in den Schulen (als «künstlicher Lernort») verrichten erschreckend «entfremdet». Doch obwohl ich inzwischen der Überzeugung bin, dass natürliches Lernen der beste Weg wäre, um die Herausforderungen (und Freuden) des Lebens zu meistern, ist mir genauso bewusst, dass diese Überzeugung den Jugendlichen in unserer Ausbildung wenig hilft. Nach etlichen Schuljahren in einem mehr oder weniger klar strukturierten Umfeld, wären die allermeisten in einem sehr offenem Lernsetting überfordert und ein plötzliches Abreissen aller Leitplanken wäre dem «Lernen» nicht zuträglich. Und hier bietet der Ansatz der Kompetenzorientierung mit all seinen Aspekten eine Brücke, die uns helfen kann, zumindest wieder eine Verbindung zum persönlichen Lernweg jedes einzelnen Schülers und jeder einzelnen Schülerin zu schaffen.

 

Ich möchte hier auch noch festhalten, dass der Ruf nach Kompetenzorientierung, wie oben bereits erwähnt, bereits zahlreiche Auswüchse spriessen liess. So kann die Kompetenzorientierung auch «missbraucht» werden als Konstrukt, um den Unterricht fast stärker als zuvor zu reglementieren, strukturieren und die Lernenden zu nivellieren. Die Stufen und Raster, die der Ansatz der Kompetenzorientierung mit sich bringen, bergen die Gefahr der «Technokratisierung», die nächsten potentiellen Lernschritte bereits auf Papier und im Kopf der Lehrperson fokussiert, so dass der Unterricht zu einer «Treibjagd» nach Kompetenzstufen verkommt. Das ist selbstverständlich nicht das, was ich und auch die allermeisten Fachpersonen darunter verstehen. Das Beispiel zeigt aber, dass bei der Ausarbeitung eines kompetenzorientierten Curriculums relativ viel Freiraum besteht, mit welchen Haltungen und Wertvorstellungen man dieses «theoretische Gefäss» füllt. Die konkreten Umsetzungsbeispiele, vor allem auf der Stufe Sek II, sind nämlich rar. Der dargelegte Vorschlag ist also in gewissen Bereichen stark von meinen persönlichen Ansichten mitgeprägt, während in anderen Bereichen die Meinung der Wissenschaft und der Fachdidaktiker so einhellig und «erdrückend» ist, dass kaum Interpretationsspielraum bei der Umsetzung besteht. Ich habe versucht in meinen Ausführungen zu den Merkmalen des kompetenzorientierten Unterrichts möglichst deutlich auszuweisen, wie die konkreten Umsetzungsvorschläge zustande gekommen sind.

 

Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch den Geschichtsunterricht an der Wirtschaftsmittelschule in Bern konsequent nach kompetenzorientierten Grundsätzen zu organisieren. Es handelt sich also um einen Entwurf, der sich in der Realität des Unterrichtsalltags zuerst noch beweisen muss. Im Anschluss an diese Arbeit soll eine Pilotklasse in einem dreijährigen Zyklus das geplante Curriculum durchlaufen. Danach soll das präsentierte «Modell» aufgrund der gemachten Erfahrungen angepasst werden.

 

Obwohl diese Arbeit eine Lösung für ein bestimmtes Fach an einer bestimmten Mittelschule präsentiert hoffe ich doch, dass sich auch andere Lehrpersonen von den zusammengetragenen Informationen, den gewonnen Erkenntnissen und den konzipierten Unterrichtsmaterialien inspirieren lassen, in der Überzeugung, dass konsequente «Kompetenzorientierung» jungen Erwachsenen in mannigfacher Weise zugutekommen wird.