Realitätsnahe Anwendungssituationen

(Auch: Bezug zur Lebenswelt)

Wenn wir uns in Bezug zum Fach Geschichte der Frage der «lebensweltlichen Themen» zuwenden, merken wir rasch, dass wir in eine Diskussion einsteigen, die Historiker und Fachdidaktiker schon seit Jahrzehnten führen. Noch in der Zeit als sich die Diskussion auf «Schülerzentrierung», «Lebensnähe» oder «Demokratisierung des Unterrichts», alles Konzepte, die in der Kompetenzorientierung impliziert sind, dessen Begriff damals noch gar nicht aus der Taufe erhoben war, zeigt sich ein wahrer Grundsatzstreit, den man bis in die 70er Jahre zurückverfolgen kann. Obwohl der kanonisierte und chronologisierte Geschichtsunterricht seit Jahrzehnte und immer stärker kritisiert wird, bildet er im Unterrichtsalltag immer noch den Normalfall. Das ist umso mehr erstaunlich, als dass diese Form des Unterrichts von den meisten Fachdidaktikern mehr oder weniger deutlich zu «Grabe getragen» wird.

 

Bärbel Völkel zum Beispiel verlangt von der Geschichtsdidaktik den «Eiffelturm der eigenen Wissenschaft» zu verlassen. Sie nimmt die Geschichtsdidaktik in die Pflicht ein Konzept zur Verfügung zu stellen, die durch das Leitbild der Pluralität und dem damit verbundenen Gedanken der Kontingenz eine prinzipiell offene Verbindlichkeit bleibt. Sie schreibt:

 

«Wovon sie (die Geschichtswissenschaft) allerdings wird lösen müssen ist das Prinzip der Chronologie – denn in einer pluralen Gesellschaft kann es, wenn überhaupt, nur gruppenspezifische Chronologien geben, die sich kaum in eine unterrichtlich zu vermittelnde Chronologie einbinden lassen werden. Eine Geschichtsdidaktik jedoch, die Geschichte als historische Sozialwissenschaft versteht, bleibt gerade in einer solchen Situation handlungsfähig.» (VÖLKEL: 2012, 112)

 

Hartmann Wunderer (WUNDERER: 2001, 98ff) stellt in seinen Überlegungen zu einem zeitgenössischen Geschichtsunterricht auf der Sekundarstufe II ganz konkret zwei Grundsätze gegenüber. Der «zweite Durchgang» im Sinne von einer chronologischen, in vielen Fällen für viele Lernende repetitiven, Unterricht einerseits oder die Förderung der Studierfähigkeit andererseits. Wenig überraschen konstatiert Wunderer, dass wir mit der Forderung nach einem «zweiten Durchgang» keinen Schritt weiterkommen, nicht zuletzt, weil die Stoffpläne in Bezug auf die zur Verfügung stehende Zeit heillos überfrachtet sind. Wunderer geht des Weitern auf die Diskussion ein, die sich relativ rasch unweigerlich stellt, wenn es darum geht inhaltliche Aspekte oder bestimmte Themen aus den völlig überfrachteten Lehrplänen zu eliminieren. Dieser Diskussion kann bei der Umsetzung von kompetenzorientierter Geschichtsunterricht nicht umschifft werden. Bei der Diskussion um die «relevanten» Themen nimmt Wunderer eine pragmatische Position ein:

 

«Solche Fragen sind indes verkürzt. Denn bei der Auswahl von historischen Gegenständen und Themen sollte nicht nur der Stellenwert und die Dignität bedacht werden, den ein Gegenstand in der Geschichtswissenschaft geniesst, sondern primär dessen historische Akzentuierung, also die Frage, welchen Beitrag zur Profilierung des Geschichtsbewussteins die Beschäftigung mit einem historischen Gegenstand eröffnet. Denn erst die didaktischen Fragen an einen historischen Gegenstand machen diesen zu einem relevanten Thema.» (WUNDERER: 2001, 100)

 

Übertragen wir diese Forderung auf unser Konzept des KoG würde dies in einer konsequenten Auslegung bedeuten, dass die Kompetenzen die Inhalte bestimmen müssen und nicht umgekehrt. Oder anders formuliert: Erst wenn wir uns klargeworden sind, welche historischen Kompetenzen wir bei den SchülerInnen fördern und schlussendlich auch einfordern wollen, können wir entscheiden, an welchen Themen wir diese Kompetenzen am besten fördern und üben können.

 

Als schier unumstössliches Ziel des Geschichtsunterrichts an Sek II Schulen gilt die Vermittlung eines Überblicks- oder Basiswissens. Wunderer führt aus, dass ein Orientierungswissen eine notwendige Voraussetzung zur Verortung relevanter historischer Prozesse darstellt, warnt aber davor dieses Überblickswissen zu stark zu gewichten. In seinen Augen genügt eine grobe Orientierung, da die Ausrichtung an Überblickswissen sich einigen in seinen Augen problematischen Konsequenzen zeigt, die ich unten kurz zusammenfasse:

 

  • Einen Konsens, was zu einem historischen «Basiswissen» zu verstehen ist, kann es in einer pluralen Gesellschaft nicht geben.
  • Dieses sogenannte historische Grundwissen wird – wie bereits häufig nachgewiesen (und auch in der Einleitung auf Grundlage der ausgewerteten «Standortbestimmungen» konstatiert) – rasch wieder vergessen.
  • Das historische Grundwissen ist nur auf dem Wege eines stoff- und lehrerzentrierten Unterrichts vermittelbar, offene Lernformen müssen dabei in den Hintergrund treten.
  • Das Basiswissen bezieht sich in der Regel nur auf die mitteleuropäische (und auch bei uns oft deutsche) Politik- und Ereignisgeschichte. Die Sozial-, Alltags-, Geschlechter- oder Kulturgeschichte wird dabei grosszügig ignoriert.
  • Das Abarbeiten von Basiswissen eignet sich kaum zur Problematisierung von Geschichtsbildern und zur Profilierung eines an Gegenwartsproblemen orientierten Geschichtsbewusstseins. Gerade dies ist allerdings eines der zentralen Merkmale des kompetenzorientierten Unterrichts.

(WUNDERER: 2001, 102f)

 

Gerhard Schneider bläst in einem längeren Artikel zum Geschichtsunterricht ins gleicher Horn. Er beklagt ebenfalls, wie wenig Faktenwissen bei den Schüler hängenbleibt und wie wenig sie Ereignisse chronologisch einordnen können. Ausserdem führt er aus, dass in einem Fach, dass mit 2 Wochenlektionen dotiert ist und dem Jahr für Jahr neuer potenziell zu lernender Stoff zuwächst, der Tod wegen Auszehrung droht. Auch seine Schlussfolgerungen sind eindeutig:

 

«Was kann getan werden? Zunächst ganz pauschal: Lasst uns den chronologischen Durchgang durch die Geschichte abschaffen. Er hinterlässt im Gedächtnis der Schüler kaum Spuren.» (SCHNEIDER: 2001, 78)

 

Und weiter: «Möglicherweise sind die schlechten Kenntnis- und Behaltensleistungen in Geschichte auch darauf zurückzuführen, dass Schüler meinen, das, was sie in Geschichte lernen sollten, sei nicht ihre Geschichte, bzw. habe mit ihrem Leben nichts zu tun. Und sicher erklärt sich der geringe Erfolg des Geschichtsunterrichts auch dadurch, dass der Geschichtssoff den Schülern ja nur in vermittelter Form – also mit Hilfe von Medien und Quellen – präsentiert werden kann, eine Begegnung mit Geschichte, obwohl vielfach gefordert und etwas von Geschichtslehrbüchern und manchen Unterrichtsmaterialien verheissen, meist im wahrsten Sinne des Wortes papieren bleibt, ja, im eigentlichen Sinne des Wortes auch nicht möglich ist.» (SCHNEIDER: 2001, 80)

 

In Bezug auf den KoG ist dies eine ernüchternde Bilanz, die aber auch aufzeigt, wo in Bezug auf einen möglichst lebensnahen Geschichtsunterricht der Hebel anzusetzen ist. Schneider macht gegen Ende seiner Ausführungen konkrete Vorschläge wie die Unterrichtsgegenstände in der Oberstufe aussehen könnten. Ohne hier seine lange «Themenliste» abschliessend wiederzugeben, sollen einige Beispiele aufzeigen, in welchen Kategorien sich Schneider vielversprechenden Geschichtsunterricht vorstellt: Es sind dies u.a.:

 

Jung sein – Alt sein

Tod und Weiterleben

Jungen und Mädchen – Männer und Frauen

Lieben und Hassen, Freunde und Feinde, Solidarität und Ausgrenzung

Heilige, Propheten, Stars und Aussenseiter bzw. «Defianz und Normalität»

Krank sein und gesund sein

Gewalt, Krieg und Frieden

Führer, Aktivisten und Mitläufer, Vorbilder und Feindbilder

 

(SCHNEIDER: 2001, 83f)

 

In fast die gleiche Bresche schlägt Klaus Bergmann in seinem Buch «Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht». Der Autor sieht keinen Sinn im herkömmlichen historischen Faktenlernen und kommt auf einen Themenkanon der sich an den «grossen Fragen» der Gegenwart und der Zukunft orientiert und der (unweigerlich?) jenem von Schneider sehr ähnlich sieht.

 

Gerechtigkeit und gutes Leben

Glaube und Hoffnung

Gewalt, Krieg und Frieden

Gleichberechtigung der Geschlechter

Verfolgung und Unterdrückung

Arbeit und Arbeitslosigkeit

Armut und Ausbeutung

«Heimat», Flucht, Vertreibung, Migration

Nationalismus, Rassismus, Fundamentalismus

Protest und Widerstand

Leben in der Beschleunigung der Zeit

Umwelt: oder Bewahrung der Schöpfung

Freiheit und Menschenrechte

 

(BERGMANN: 2002, 15f)

 

Bergmann begründet seine Auswahl damit, dass diese grossen Fragen einen bedeutenden inneren Zusammenhang haben. Jenen nach dem menschlichen Streben nach Glück und einem guten Leben, inmitten eines weltweit noch immer massenhaften menschlichen Leidens und andauernden Gefahren von Rückfällen hinter erreichte Standards. (BERGMANN: 2002, 16)

 

Eine derartige thematische Aufgleisung öffnet natürlich Tür und Tor für Kritik vonseiten der (offenbar wenigen) Verfechtern des Unterrichts entlang von Basiswissen. Dieser Themenkatalog, so könnte kritisiert werden, sei eine Hinwendung zur überschaubaren und beschaulichen Lebenswelt und in allgemeinen unpolitisch. Zudem sähen einige in den obigen Zusammenstellungen die Grundfeste des soliden Geschichtsunterrichts erschüttern, da die historischen Inhalte scheinbar im Sog des fächerübergreifenden Einheitsbrei zu «versumpfen» drohen. Natürlich so gilt es hier anzumerken, müssten bei diesen exemplarischen Themenkomplexen, gezielt nach den historischen und politischen Komponenten gesucht werden und Fragestellungen gezielt so formuliert werden, dass die SchülerInnen unweigerlich auf die historischen und politischen Dimensionen stossen, die in allen Themenbereichen unweigerlich verwoben sind. Und gegen das Argument der historische Unterricht werde durch solche thematischen Anordnungen verwässert, hat sich Klaus Bergmann in einem Fachartikel dezidiert geäussert:

 

«Das in einem äusserst fragwürdigen Abstraktions- und Selektionsprozess aus der Historie – in der Regel: Der Politikgeschichte – entnommene «Überblickswissen» zwei- bis dreimal pro Woche in isolierten 45-Minuten-Stunden an Kinder und Jugendliche heranzutragen, grenzt an Frevel gegenüber der Historie und ist ein Vergehen an Kinder und Jugendlichen, eine Vorenthaltung von Möglichem. Es nimmt ihnen kostbare Zeit «Im Zusammenhang der Dinge» zu lernen. Kein Kind erfährt die Realität aufgeteilt in fachspezifische Gegenstandsbereiche. Das, was den Kindern als wissenschaftliche Erkenntnis entgegengebracht wird, führt ihren Interessens und Assoziationshorizont in der Regeln nicht weiter, sondern fragmentiert und zerstört ihn. Damit wird auch das zugrundeliegende Erkenntnisinteresse ausgetrieben – häufig für immer.» (BERGMANN: 2001, 45)

 

Was entnehmen wir aus diesen Ausführungen für den KoG? Historische Sachthemen isoliert von der aktuellen Lebenswelt der SChülerInnen zu behandeln und dabei andere Fachbereiche auszublenden führt zu einem «fragmentierten Insellernen», das dem Interesse in keiner Weise zuträglich ist. Zudem müssen relevante historische und politische Themen immer in Bezug auf ein lebensweltliches Thema angeschaut werden. Auch Klaus Bergmann fragt sich, warum sich der Geschichtsunterricht vorsätzlich und leichtfertig von den anderen Schulfächern abgrenzen sollte. Im Gegenteil liefert die Geschichte ihren eigenen Erklärungsanteil zu den Problemen und Herausforderungen der Gegenwart und der absehbaren Zukunft und liefert demnach auch Orientierung- oder Handlungskompetenz um diese fächerübergreifenden Schlüsselprobleme anzugehen.

Abbildung 15: Gegenwartsprobleme als Forschungsgegenstand verschiedener Disziplinen (BERGMANN: 2002, 10)
Abbildung 15: Gegenwartsprobleme als Forschungsgegenstand verschiedener Disziplinen (BERGMANN: 2002, 10)

Ein lange Zeit üblicher und heute noch häufig praktizierter Weg zur Themenbestimmung ist die Reduktion. Danach sollen die Ergebnisse der geschichtswissenschaftlichen Forschung auf eine Menge reduziert werden, die in der knappen Unterrichtszeit des Faches und auf dem Verständnisniveau bzw. im Auffassungsrahmen der Lernenden zu bewältigen ist. Das Reduktionsmodell ist theoretisch unzulänglich und praktisch undurchführbar. Erstens blendet es die Tatsache der zunehmenden geschichtswissenschaftlichen Spezialisierung und Differenzierung aus und öffnet somit Tür und Tor für Beliebigkeit und Willkür. Zudem beruht dieses Auswahlverfahren auf einem naiven Verständnis von Fach und Fachlichkeit in der schulischen Bildung. Selbstverständlich basiert das Schulfach Geschichte auf der akademischen Referenzdisziplin, aber genau wie in anderen Fächern können die Lerninhalte nicht unmittelbar aus der Fachwissenschaft abgeleitet werden. Vielmehr erfolgt die Auswahl aus der Fülle und Komplexität geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse unter geschichtsdidaktischen Gesichtspunkten, durch didaktische Konstruktion (statt lediglich durch Reduktion) im Hinblick auf historische Bildung.

 

Die Liste an Fachdidaktikern, die sich dezidiert für eine thematische Öffnung des Unterrichts aussprechen könnte man noch fast beliebig erweitern. Abschliessen möchte ich aber noch mit einer Aussage des im deutschsprachigen Raum wohl renommiertesten Fachdidaktikers Bodo von Borries, der gar eine «Bankrotterklärung des methoden- und quellenorientierten Geschichtslehrens» postuliert.

 

«Ob aber Verfassung oder Geschlechterverhältnis, Bündnissystem oder Umweltveränderung, Sozialstruktur oder Mentalitätswandel, Wirtschaftsentwicklung oder Kulturkontakt bedeutsamer sind, lässt sich nicht autoritativ-anordnend (und endgültig), sondern nur kommunikativ und argumentierend (zugleich vorläufig) entscheiden. Jenseits eines Verhandlungsprozesses, an dem die Lernenden prinzipiell beteiligt sein müssen, gäbe es nur Ideologie und Herrschaftsausübung.» (BORRIES: 1996, 530f)

 

Damit liefert uns Bodo von Borries einen weiteren Hinweis an welchen Leitlinien sich der KoG bei der Themenfindung orientieren sollte. Die Themen müssen in letzter Konsequenz in einem offenen Diskurs und in Verhandlung mit den Lernenden erarbeitet werden. Damit bringt Bodo von Borries auch das Element der Demokratisierung in die Themenfindung mit ein.

Konsequenzen für den kompetenzorientierten Geschichtsunterricht

Versuchen wir nun die gesammelten Erkenntnisse zu der Frage nach der geeigneten Themenwahl zusammenzutragen und Schlüsse für ein dreijähriges Curriculum zu ziehen, so stellen wir folgendes fest:

  1. Der chronologische Unterricht entlang von kanonisiertem Basiswissen gilt als veraltet und ist mit der heutigen pluralistischen Lebenswelt und damit auch mit dem GoU nicht vereinbar.
  2. Die Lehrpläne von Gymnasien und Mittelschule sind generell überladen und verleiten dazu, alle scheinbar relevanten Themen in kondensierter Form zu behandeln. Dieses «Reduktionsmodell» ist für den KoG und den Geschichtsunterricht generell aber unzulänglich.
  3. Die Themen müssen sich sinnvollerweise aus der Lebenswelt der Lernenden erschliessen. Historische und politische Inhalte werden dann anhand dieser Themen implizit erarbeitet.
  4. Wenn wir im Geschichtsunterricht die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen der Lebenswelt der Lernenden zum Thema machen wollen, so wird (bzw. muss) dieser zwangsläufig auch fächerübergreifenden Bereiche umfassen.
  5. Im KoG müssen die Themen konsequenterweise (auch) in Zusammenarbeit mit den Lernenden erarbeitet werden.